Immer wieder stellt sich das Problem, welche Fakten ein
Gericht seiner Beurteilung zugrundelegen darf. Geht es um offenkundige
Tatsachen oder handelt es sich bei einem vermeintlichen Faktum doch bloß ein
"Vorurteil"? Das kann für den Ausgang eines Verfahrens sehr wichtig
werden. Dabei wäre eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu einer solchen
Einschätzung ein wichtiger Umstand, der in Rechtsmittelverfahren ggf.
erfolgreich vorgetragen werden. Das BAG hat seiner Entscheidung vom 28.10.2010
- 8 AZR 546/09 dazu dezidiert Stellung genommen: Es ging um die Verletzung des
Persönlichkeitsrecht eines Klägers durch handschriftliche Vermerke des Vorgesetzten auf einem Bericht
des Klägers. Der Kläger hatte die Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör gerügt, da es das Vorgericht unterlassen habe, ihm einen nach
§ 139 Abs. 2 ZPO gebotenen Hinweis zu erteilen.
Das Landesarbeitsgericht hätte
darauf hinweisen müssen, dass es aufgrund eines eigenen Erfahrungshorizonts
davon ausgehe, derartige Bemerkungen in einem Vermerk brächten keine
Sonderbehandlung gegenüber dem Kläger zum Ausdruck und dass es aufgrund seines
eigenen Erfahrungshorizonts auch nicht unüblich erscheine, dass sich
Vorgesetzte im Rahmen ihrer Vermerke auf Berichten von Untergebenen derart ins
Persönliche gehende Bemerkungen erlaubten. Dabei wurde in der Begründung des
Rechtsmittels auch moniert, dass der eigene Erfahrungshorizont vom Landesarbeitsgericht
weder offen gelegt worden sei noch dargelegt worden sei. Der Kläger
erklärte, dass er im Falle der gebotenen Hinweise durch das
Landesarbeitsgericht erläutert hätte, warum die in Rede stehenden Bemerkungen
des Arbeitgebers gerade nicht der Üblichkeit entsprächen. Das
Landesarbeitsgericht wäre zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich gerade nicht um
eine im Arbeitsleben übliche Konfliktsituation gehandelt habe und es hätte das
Vorhandensein einer schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung angenommen. Diese
schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung hätte in Verbindung mit den
festgestellten Persönlichkeitsrechtsverletzungen das Landesarbeitsgericht zu
der Entscheidung gebracht, dass gegenüber dem Kläger tatsächlich
Mobbinghandlungen ausgeführt worden seien und das Urteil wäre zu Gunsten des
Klägers ausgefallen.
Bundesarbeitsgericht Erfurt |
Das Bundesarbeitsgericht hat im Blick auf diesen
Vortrag erläutert: Neben dem Parteivorbringen darf das Gericht bei seiner
Entscheidung auch offenkundige Tatsachen iSv. § 291 ZPO verwerten. Offenkundig
ist eine Tatsache dann, wenn sie zumindest am Gerichtsort der Allgemeinheit
bekannt oder ohne besondere Fachkunde - auch durch Information aus allgemein
zugänglichen zuverlässigen Quellen - feststellbar ist. Offenkundig kann eine
Tatsache auch dann sein, wenn der Richter sie aus seiner jetzigen oder früheren
amtlichen Tätigkeit kennt („gerichtskundige Tatsachen“). Das gilt nach dem BAG
allerdings nur dann, wenn die zur Entscheidung berufenen Richter sich nicht
erst durch Vorlegung von Akten erneut informieren müssen. Wichtig ist sodann
folgender Hinweis: Solche offenkundigen oder gerichtskundigen Tatsachen sind
seitens des Gerichts in die mündliche Verhandlung einzuführen, um den in Art.
103 Abs. 1 GG normierten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht
zu sichern. Nur solche Tatsachen, Beweisergebnisse und Äußerungen anderer
dürfen zugrunde gelegt werden, zu denen die Streitbeteiligten Stellung nehmen
konnten. Hier lag der Fehler des Landesarbeitsgerichts, das seinen
„Erfahrungshorizont“ in der mündlichen Verhandlung nicht dargelegt hat und dem
Kläger die Möglichkeit genommen, sich damit auseinanderzusetzen und ihn
gegebenenfalls zu widerlegen. Dabei handelt es sich bei dem Umstand,
derartige ins Persönliche gehende Bemerkungen auf Sachberichten seien in der
Verwaltung des Landeskriminalamts üblich, weder um eine offenkundige noch um
eine gerichtskundige Tatsache, unabhängig davon, dass sie in die mündliche
Verhandlung hätte eingeführt werden müssen. Auf diesem Verfahrensfehler kann
die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts auch beruhen, da bei korrektem
Verfahren das Berufungsgericht möglicherweise anders entschieden
hätte.
Das Vorgericht hatte somit
den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt,
indem es der Entscheidung seinen eigenen Erfahrungshorizont zugrunde gelegt
hat, ohne diesen zuvor den Verfahrensbeteiligten offen zu legen.